Eine Klasse für sich

Hier herrschen strenge Regeln! Aber zum Schluss gibt es Biskuitkuchen für alle. Herzlich willkommen bei den eigentümlichen Traditionen des „Wall Game” in Englands Eliteschule Eton

Junge Männer in gestreiften Shirts drängeln sich in einem Haufen zusammen, grunzend und mit gesenkten Köpfen, während andere Jungen oben auf einer Mauer sitzen und sie anfeuern. Die Szene erinnert an das Gedränge beim Rugby oder an den Moment im American Football, wenn ein Runningback auf die Linie der Gegner trifft – nur in diesem Fall geht das Gedrängel immer weiter, der Ball ist verborgen unter einem wuselnden Haufen von Armen und Beinen, und irgendwann wird dem unerfahrenen Betrachter klar, dass das, was er dort sieht, im Grunde genommen das ganze Spiel ist.

Diese Stunde „konstanten, homerischen Handgemenges”, wie der britische Autor Arthur Clutton-Brock das Spiel in seinem Buch Eton beschrieb, ist das sogenannte Wall Game, das seit Jahrhunderten in Eton, der exklusivsten Jungenschule Großbritanniens, gespielt wird.

Illustrationen von Lachlan Campbell aus <em>Eton Colours: An Essential Illustrated Aide Memoire</em>; @lachlancampbellartist
Illustrationen von Lachlan Campbell aus Eton Colours: An Essential Illustrated Aide Memoire; @lachlancampbellartist

Die 580 Jahre alte Eliteschule Eton liegt eine Stunde westlich von London und nimmt einen ganz besonderen Platz in der Geschichte des Landes ein – und die Identität der Schule ist untrennbar mit ihrer herausragenden Sportkultur verbunden. Während der glorreichen Zeiten des British Empire behauptete der Duke of Wellington, dass die Schlacht bei Waterloo auf den „Spielfeldern von Eton” gewonnen wurde – mit anderen Worten also, dass die besten Anführer des Landes dank des charakterbildenden Sports in ihrer Jugend zu richtigen Männern geworden waren.

Ob diese Beobachtung nun richtig oder falsch ist – obskure Ballsportarten gehören noch immer zu den skurrilen Initiationsriten für Jungen der britischen herrschenden Schicht. Und zu den skurrilsten dieser Riten gehört das Wall Game, das ausschließlich in Eton und sonst nirgends gespielt wird. Mehrere Premierminister haben dieses Spiel gespielt, und auch George Orwell – und das mit viel Elan. Und vor nicht allzu langer Zeit ist auch Prince Harry mit diesem Spiel zum richtigen Mann geworden. Das Wall Game ist einer von mehreren Vorgängern von Rugby und Fußball und historisch gesehen um einiges bedeutender.

Der Ursprung

Das erste dokumentierte Spiel fand im Jahr 1766 statt. In den 1820er-Jahren war das Wall Game als Wintersport in Eton bereits „fest etabliert”. Bis zum Jahr 1844, als das erste Spiel am St. Andrew’s Day abgehalten wurde – eine Tradition, die bis in die heutige Zeit andauert –, hatten sich die Regeln mehr oder weniger etabliert. Während der Hochzeit des Viktorianischen Zeitalters wurde das Wall Game zu einem zentralen Bestandteil des Lebens in Eton. Zuvor hatten die Lehrer das Spiel nur toleriert, da sie es als Möglichkeit sahen, ungestüme Schüler in Schach zu halten; nun jedoch wurde es in den höchsten Gesellschaftsschichten als Mittel zur Anerziehung von Zähigkeit und Teamgeist gelobt. Diese Einstellungsänderung betraf nicht nur das Wall Game, sondern den Sport im Allgemeinen: Der verehrte Duke, ein Gründer des Britischen Imperiums, äußerte sein bekanntes Zitat angeblich, während er sich ein Cricket-Spiel ansah.

Die Regeln

Nun soll erklärt werden, wie dieses Spiel gespielt wird. Alles passiert an einer ca. 110 Meter langen Mauer, womit das Spielfeld ungefähr so lang wie ein Bundesliga-Fußballfeld ist. Mit seiner Breite von gerade einmal 5 Metern ist das Spielfeld, das als „Furrow” bezeichnet wird, jedoch erheblich schmaler. Das eigentliche Spiel findet größtenteils an der Mauer statt, wo der Lederball im Gemenge („Bully” genannt) verborgen ist. Die gegnerischen Teams versuchen, den Ball ohne Einsatz der Hände in Richtung der „Calx” genannten gegnerischen Endzone zu bewegen. Dort angekommen, kann ein Team einen „Shy” erzielen, falls es ihm gelingt, den Ball gegen die Wand zu drücken und mit einer Hand zu berühren. Das Tor am einen Spielfeldende ist eine Tür; am anderen Ende ist es eine uralte Ulme – bzw. war sie das bis vor wenigen Jahrzehnten. Jetzt ist es eine dezente Kreidemarkierung. Für ein Tor erhält die Mannschaft neun Punkte – so weit kommt es jedoch nur äußerst selten. Ein Shy bringt einen Punkt.

Das Wall Game „erscheint so brutal, da es vollkommen unübersichtlich ist,” schreibt Nick Fraser in The Importance of Being Eton. Aber es passiert mehr als das, was erkennbar ist – und nicht alles ist erlaubt. „Sneaking”, eine Art Abseits, ist nicht zulässig. Und auch „Furking”, das Entfernen des Balls aus dem Gemenge nach hinten, ist verboten. „Zu wissen, wie man nicht gegen die Regeln verstößt, oder wie man den Gegner dazu bringt, gegen sie zu verstoßen, kann spielentscheidend sein,” erklärt der Londoner Anwalt Nico Leslie, der von 1997 bis 2002 in Eton war und gegen Prince Harry gespielt hat. „Eine Taktik war, die Handschuhe ordentlich anzurauen und sie dann in das Gesicht des Gegners zu reiben”, fügt er hinzu. „Das konnte recht unangenehm werden.” Auch wenn Hände im Gesicht des Gegners zu einem gewissen Maß erlaubt sind, ist es doch verboten, in die Augen zu stechen und zu schlagen.

Schüler in Eton spielen 1933 das Wall Game
Schüler in Eton spielen 1933 das Wall Game

Noch mehr Vorbereitung als sonst – nicht zu vergessen die Aufmerksamkeit der Medien – gibt es im Umfeld des Spiels am St. Andrew’s Day, das jährlich im November stattfindet. Hierbei tritt ein 10 Mann starkes Team aus Collegers, also Stipendiaten, gegen die Oppidans an, wie die voll zahlenden Schüler genannt werden, die an der Schule in der Mehrheit sind. Der Spielerstamm der Oppidans ist exponentiell größer. (Das Verhältnis liegt heutzutage bei ca. 14 zu 1.) Diese zahlenmäßige Überlegenheit wird jedoch durch die Tatsache ausgeglichen, dass die Collegers gemeinsam direkt neben der Mauer untergebracht sind und daher viel Gelegenheit zum Trainieren haben – und bei ihnen wohl auch mehr Stolz auf dem Spiel steht. Da dieses Spiel das einzige offizielle Spiel des Jahres ist, wird es „sehr ernst genommen”, weiß Malachi Mills, der derzeit Schüler in Eton ist. Dies gilt besonders für die Spieler, die mehr oder weniger vor der gesamten Schule antreten. (Nichtsdestotrotz wurde das letzte Tor am St. Andrew’s Day im Jahr 1909 erzielt.)

Jedes der vier anerkannten Wall Game Teams trägt seine eigenen Farben. Die Ausstattung geht weit über den Retro-Look hinaus: Zu den an Sträflingskleidung erinnernden Trikots mit breiten Streifen gibt es passende Socken und Kappen. Die Jerseys der Collegers sind weiß und lila, während die Oppidans Orange und Lila tragen. Die Oppidans tragen am St. Andrew’s Day weiße Sporthosen, was an Kleidung für den Country Club erinnert und in Kontrast zu der „Kriegsbemalung” steht, die vor dem Spiel auf das Gesicht aufgetragen wird.

Wie beim Rugby fällt der Verletzungsschutz knapper als erwartet aus. Im Allgemeinen werden Handschuhe getragen; die einzigen anderen Bereiche, die die Spieler möglicherweise schützen, sind der Mund (in Form eines Zahnschutzes) und die Schienbeine. Früher nutzten die Schüler hierfür Bucheinbände, die sie unter der Hose anbrachten. Heute greifen die Spieler auf ganz normale Schienbeinschoner zurück.

Die Tradition

Etons Wall Game selbst ist, wenn man so will, eine architektonische Variante eines anderen Spiels, das noch heute hier gespielt wird: das Field Game. Zwar ist dieses Spiel älter als das Wall Game, es wirkt jedoch mehr wie unsere heutigen Ballsportarten, und viele Schüler mögen dieses Spiel lieber. „Das Field Game ist ein viel freieres, schnelleres Spiel, das mir mehr Spaß macht”, findet Mills. Die Abwehrreihe jedes Teams versucht, den Ball weit ins Feld zu kicken, damit andere Spieler ihn nach vorne bringen und ein Tor erzielen können, das „Rouge” genannt wird.

Das Field Game wird von einer größeren Anzahl von Schülern gespielt als das Wall Game; es gibt regelmäßig Spiele zwischen den Häusern und keine schicken Festessen oder übertriebenen Rivalitäten wie beim Wall Game am St. Andrew’s Day. Mills sagt dazu: „Die Leute erinnern sich an das Ergebnis – nicht wie beim Wall Game, bei dem viele nicht einmal wissen, wie der Spielstand am Ende war.”

Darrell Hartman lebt als freiberuflicher Autor in New York. Er ist Redakteur und Mitbegründer der Website Jungles in Paris.
  • Mit freundlicher Genehmigung von Getty Images
  • ILLUSTRATIONEN VON LACHLAN CAMPBELL AUS Eton Colours: An Essential Illustrated Aide Memoire; @lachlancampbellartist